Merry Christmas - oder: Ich packe meinen Koffer



Langsam manövriere ich mich das Treppenhaus hinunter. Über meinen Schultern hängen, gleichmäßig verteilt, insgesamt fünf Taschen. In den Händen zwei Mülltüten und eine Cola-Flasche. Über dem kleinen Finger hängt mein Schlüssel. Vor mir poltert der Gatte mit den prall gefüllten Koffern nach unten. 

Ich gehe in Gedanken die wichtigsten Dinge durch, die ich in den nächsten Tagen brauchen werde und versuche mich zu erinnern, ob ich ebendiese gerade noch in der Hand hielt, um sie in den Koffer zu packen. 

Der stressigste Tag in der Weihnachtszeit ist alle Jahre wieder der, an dem es in die Heimat geht. Und alle Jahre wieder bin ich aufs Neue unvorbereitet. 

Ich muss noch die letzten Geschenke einpacken. Eines noch ausdrucken. Wie packt man runde Sachen ein, verdammt. Das Klebeband ist alle. Fingernägel lackieren. Wäsche abhängen. Eigentlich wollt ich noch meine Haare tönen. Ich muss packen. Was ziehe ich eigentlich an? Heilig Abend. Am ersten Weihnachtsfeiertag. Am zweiten. Und an den Tagen danach, an denen noch mehr Familie besucht wird. Bleibt das Wetter so? Welche Strumpfhose war nochmal die ohne Loch? Und welche Schuhe passen zu allem? Ach Mist, die Waschmaschine ist fertig. 

Brauche ich Hausschuhe? Das Ladegerät nicht vergessen. Welches Buch nehm ich mit? Und guck dann nicht rein. Geschirrspüler anschalten. Fingernägel neu lackieren. Diesmal richtig trocknen lassen. Wo sind eigentlich die Schlittschuhe? Und warum funktioniert heute das Internet nicht? Achja, die Waschmaschine war ja fertig. 

Muss ich Duschbad mitnehmen oder krieg morgen sowieso welches geschenkt? Die Reste im Kühlschrank, die sich dann doch keiner nochmal aufwärmen wollte, werf ich mal weg. Die drei Käsewürstchen? Werden Proviant. Die angefangene Cola auch. Nicht den neuen Schoko-Bailey's vergessen. Der Müll muss noch runter.  Doch noch Haare tönen. Und fönen. Nehm ich den Laptop mit? 

Ist der Herd aus? War der Herd heut schon an? Ist das Fenster im Schlafzimmer noch offen? Hast du abgeschlossen? Geh schon mal vor. Hast du die Zahnpasta eingepackt? Ich glaub wir haben alles. Ist das richtig, dass der Müll auf dem Rücksitz liegt? Fahr einfach los. 

Na dann, frohes Fest. 

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Mrs. Sandman - oder: Der klägliche Versuch der Entspannung





Wenn ich meinen Kopf langsam zur Seite drehe, dann knirscht es. Es klingt ein bisschen so, als wären da grobe Sandkörner zwischen den Wirbeln, die ich mit jedem Drehen meines Kopfes zu feinerem Sand zermahle. Immer wieder rieselt welcher nach. Am liebsten würd ich da mal mit einem Staubsauger, und dem passenden Aufsatz für kleine Rillen, drüber gehen und alles wegsaugen, was knirscht und knistert. 

Ich bin eingerostet. Ich galoppiere keine Treppen mehr hoch- und runter, ich sprinte keiner Bahn mehr entgegen oder laufe verpassten Bussen hinterher. Zumindest nicht mehr täglich. Mehrmals. 

Ich arbeite jetzt Zuhause. Mein Weg zur Arbeit besteht aus 19 Schritten. 

Als Kind bin ich überall hingerannt und war es nur in die Küche. Ich rannte hin und schlug auf dem Rückweg ein Rad. Als Kind hätte ich mit ausgestreckten Beinen auf den Boden sitzend ein kleines Nickerchen machen können – mit der Nase auf den Knien. Heute komme ich im Stehen nicht mal mehr mit den Fingerspitzen auf den Boden, geschweige denn mit den Handflächen.  

Die meiste Zeit meines wachen Lebens saß ich wohl am Schreibtisch. Zuerst in der Schule und danach bei all meinen bisherigen Jobs. Auch heute bewegen sich meine Arme nur in einem kleinen Radius von der Tastatur bis zur Maus und heben ab und zu mal eine Tasse an. Bis auf ein etwaiges Achselzucken zwischendurch haben meine Schultern an einem normalen Tag nicht viel zu tun und fühlen sich mittlerweile an wie hart gewordene Knete.   

Ich sehne mich nach einer Massage, nach Entspannung und bereue es dann doch jedes Mal erneut, wenn ich ein kleines Vermögen für die vermeintliche Linderung ausgegeben habe.  

Man könnte ja in die Therme gehen und mit warmem, sprudelndem Wasser den schmerzenden Rücken erweichen. Mein Mann findet, das sei eine gute Idee. "Ich bin so verspannt, eigentlich kann es ja nur noch besser werden", dachte ich schon so oft und ging dann doch wieder enttäuscht nach Hause.  

Beim Reingehen ist meistens noch alles ganz cool, zumindest wenn ich nicht direkt schon jetzt die Begegnung mit dem nassen Pflaster auf dem Boden abhaken kann. 

Ich kann mich nur schwer beherrschen direkt ins 38°-Becken zu gehen, denn alles was danach kommt, ist einfach nur noch kalt. Also zuerst ins große Becken, wo Fontänen mit harten Wasserstrahlen ins Becken plätschern. Die sprühen aber meistens nur in Intervallen und meistens steht dann immer schon jemand drunter.

Ich weiß nicht warum, aber in Thermalbädern kann ich nicht schwimmen. Ich bewege mich eher watend fort, lasse mich zwischendurch auf Händen tragen und erfreue mich daran, dass ich hier auch auf Händen tragen kann.  

Nächste Station: Der Whirlpool. In meiner verklärten Vorstellung stand dieser vor dem Thermenbesuch noch für Romantik und Entspannung. Jetzt wo ich davor stehe, erinnere ich mich, dass da ja noch andere Leute mit drin sitzen. Zehn Leute, die bis zum Hals im Wasser sitzen und darauf warten, dass das nächste Intervall losblubbert. Es wirkt ein wenig wie ein Stammtisch, bei dem sich noch keiner kennt und alle nur peinlich berührt warten, dass endlich das Essen serviert wird. Als noch jemand dazu steigt, rücken wir noch ein bisschen zusammen. Was war das? Gerade hat etwas meinen Fuß touchiert. Es war weicher als ein Fuß. Sehr weich. Ich vermeide ab sofort Blickkontakt mit allen, bevor noch jemand auf die Idee kommt, es sei Absicht gewesen. Es sprudelt. Endlich. Ich gebe mir Mühe auch ein bisschen abzuschalten, schließe die Augen und lasse mich umblubbern. 

Irgendwie ist die Sitzbank zu niedrig angebracht. Oder ich bin zu klein. Zielgenau spritzt Wasser in mein Auge und legt langsam den dunstigen #Thermalbad-Filter auf mein Blickfeld. Dann blubbert es plötzlich nicht mehr. Intervall vorbei. Der Whirlpool ist plötzlich sehr langweilig. Und mir wird langsam kalt. 

Zeit für das Heißbecken. Hier ist es angenehm warm, diese Erwartung erfüllt das Becken einwandfrei. Immerhin. In die Seiten sind Düsen eingelassen, die einen harten Wasserstrahl ins Becken schießen. Konstant. Nur leider liegen meine Verspannungen weder in der Kniekehle, noch in der Taille, noch in den Fußsohlen. 

Der Blick auf die Uhr verrät: Noch eine Stunde. „Jetzt in die Sauna?“, frage ich und verneine innerlich. Aber wohin sonst? Nach dem Heißbecken gibt es kein Zurück. „Vielleicht gewöhne ich mich ja irgendwann dran.“, nötige ich mich in den Saunabereich und tue meinem Mann damit einen Gefallen. Der schwitzt irgendwie gerne. Hat ne dickere Haut oder so. Keine Ahnung.

Sauna. Textilfrei. Ich verstehe das Prinzip dahinter, aber dennoch entbehrt dieser Umstand jeglicher Entspannung, besonders wenn mir ein angezogener Mitarbeiter des Bades den Ablauf des speziellen Saunaganges erklärt und ich ihm fünf Minuten lang nackt zuhören muss. Bin ich eigentlich die Einzige hier, der das gerade total surreal vorkommt? Ich schaue mich um und Blicke in lauschende Gesichter. Hier ist es auf einmal sehr anstrengend den Augenkontakt nicht zu vermeiden. Zum Glück halte ich nach kurzer Zeit eine Schüssel mit Schlamm in Händen und fühle mich sogar damit schon ein wenig angezogener. 

Die Schlammpackung lenkt ein wenig von der Hitze ab. Ich halte es ein bisschen länger aus, als sonst, kann aber bald vor Schweiß in den Augen nichts mehr sehen. Endlich prasselt der versprochene lauwarme Regen von der Saunadecke. Es ist noch Zeit für einen weiteren Saunagang, ich ziehe es aber vor, mich dann schon mal in Ruhe umzuziehen. Ich latsche in die klirrend kalte Umkleide. In der Dusche will ein Kind von seiner Mutter wissen, warum die Frau „da“ Haare hat und die andere nicht. Auf seiner Augenhöhe ist das mit dem Blickkontakt nochmal eine ganz andere Herausforderung.






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Dog Content - oder: Yippie-Ya-Yeah Schweinenase





"Hier! Da! Nun nimm! Hiiiiiieeeiiier!", ich halte dem Hund ein Leckerli vor die Nase. Sie sieht es nicht, guckt mich nur fragend an. Ich halte es näher an ihre Schnute bis sie sich endlich vorsichtig ran tastet und den kleinen Hundesnack zwischen die Zähnchen nimmt. Langsam begreift sie, was es ist und beginnt genüsslich das Leckerli zu zerbeißen. Wir wiederholen das Prozedere. Beim dritten Mal hat sie das Prinzip verstanden.           

Luzie ist fast 16 Jahre alt, in Menschenjahren umgerechnet also…112? Das kann nicht sein. Tatsächlich hat mich dieses Ergebnis gerade so sehr überrascht, dass ich googlen musste, um die alte Mär von sieben Menschenjahren gleich ein Hundejahr nochmal nachzulesen: Würde der Hund über 45 Kilo wiegen, hätte sie bereits 148 Menschenjahre auf dem Buckel. Unter 15 Kilo Körpergewicht liegt das menschliche Äquivalent bei 84 Jahren. Ob sich das Hundealter bei 6,5 Kilo nun nochmal halbiert, entzieht sich meiner Kenntnis. Der Hund ist nicht mehr der Jüngste, ich denke darauf können wir uns einigen und in diesem Alter geht das mit dem Sehen halt nicht mehr so gut. Das mit dem Hören war allerdings noch nie so ihr Ding und hat mit ihrem Alter nichts zu tun. Das Einzige, was sie immer verstand, war ihr Name und das sogar, obwohl sie in den ersten sechs Jahren ihres Lebens Susi hieß. 

Rückblende. Sommer 2007. Wir fanden Susi zunächst im Internet und einen Anruf und drei Stunden Fahrt später in einem Stall vor. Hier hatte sie gelebt und permanent Welpen produziert. Nun war sie aber zu alt und naja, was soll man dann noch mit diesem Hund anstellen, dachten sich die Vorbesitzer. Susi saß zusammen mit ihrem letzten Welpen auf einem Strohhaufen. Ihr langes Fell hatte sich mittlerweile in Farbe und Textur dem Stroh angepasst. Der Welpe war ein namenloser, schwarzer Fellhaufen, bei dem man Vorne nicht von Hinten unterscheiden konnte. Susi sei stubenrein, könne "Sitz" und höre auch hervorragend auf den Befehl "Ab", bestenfalls kombiniert mit einem energischen Fingerzeig. Mit "Pfötchen" oder "Hol's Stöckchen" könne sie nichts anfangen. 

Wir nahmen Susi direkt mit, auch wenn ich von diesem lethargisch dreinblickenden Hund anfänglich nicht sonderlich begeistert war. Aber gerade aus dem Elternhaus ausgezogen, war mein Stimmrecht unwirksam - glücklicherweise. Bereits auf der Rückfahrt änderten wir ihren doch recht gewöhnlichen Namen in den etwas originelleren Namen "Luzie", da wir annahmen, dass es dem Hund herzlich egal war, welche Konsonanten da beim Rufen mitschwangen. Wahrscheinlich hatte sie sowieso die ganze Zeit über angenommen ihr Name sei „Ab“. Unter ihrer neuen Identität und in behaglicher Umgebung entwickelte sich der alte Wischmob mit mattem Fell innerhalb weniger Wochen zu einem kuscheligen kleinen Teddybären, der seinen Lebensabend von nun an gemütlich auf der Couch erleben sollte.  
 
Vor kurzem erfuhr ich über das Telefon, dass aus dem Hund die Gebärmutter heraushing.  Ich konnte mir gar nicht vorstellen, was dem Hund da widerfuhr, verzichtete aber dankend auf das Angebot meiner Mutter, mir davon ein Foto zu senden. Ganz von mir ungesehen wurde dem Hund vor einigen Wochen die stark beanspruchte Gebärmutter entfernt. Die folgenden Tage verbrachte Luzie hauptsächlich schlafend, sodass wir schon bangten, sie würde die Folgen der Operation nicht überstehen. Ich selbst hätte nach einem solchen Eingriff sicherlich auch wenig Lust direkt wieder spazieren zu gehen und fröhlich rum zu springen. Mit 84 erst recht nicht. So brauchte auch Luzie nur ein paar Tage länger um wieder ganz die Alte sein. Im Wahrsten Sinne. 
  
Beim Mittagessen sitzt der Hund neben dem Tisch, reckt die Nase nach oben und schnuppert. Das mit dem Riechen scheint besser zu funktionieren. Luzie holt ein bisschen Schwung, gerade so viel um ihre Vorderbeine auf meinem Knie zu platzieren und bringt ihre Nase damit in die Pole Position. Doch das bringt auch nichts. Das Menschenessen ist aufgegessen. Der Hundeblick bleibt. Na gut, weil du es bist. Ich hole eine getrocknete Schweinenase aus dem Leckerlieschrank. „Damit hast du erstmal zu tun“, sage ich, halte dem Hund die Nase vor die Nase und versuche mir dabei nicht zu genau vorzustellen, dass das "Leckerli" vor einer Weile selbst noch geschnuppert hat.

Das Prozedere von vorhin wiederholt sich. Luzie weiß zunächst nicht, wie ihr geschieht, zieht verwundert den Kopf ein, während ihre Nase hin und her tänzelt. Laut und deutlich höre ich es in ihrem Köpfchen rattern. Dann macht es Klick. Sie zupft mir die Schweinenase aus der Hand und tappelt in Richtung ihres kleinen Schlafsofas. Bevor sie sich dem langanhaltenden Knabbergenuss hingeben kann, muss sie zunächst sicherstellen, dass ihr die Beute nicht mehr abhanden kommen kann. Minutenlang wühlt sie ein imaginäres Loch in Ihr Kissen. Als es tief genug zu sein scheint, platziert sie die Schweinenase darin und schiebt mit ihrer Nase das gesamte Körbchen- Interieur und tonnenweise unsichtbare Erde darüber. Zufrieden und ein bisschen erschöpft kehrt sie ins Wohnzimmer zurück und tut so, als habe sie die Beute schleunigst verschlungen. Auch wenn wir sie gerade kichernd beobachtet haben und die Schweinenase noch immer sehr gut sichtbar mitten auf einem Gewühl von Decken und Kissen thront - wir spielen das Spiel mit. Ansonsten käme sie womöglich wieder auf die Idee, ihre Verstecke gründlicher auszuwählen und wir fänden derartige Leckerbissen beim abendlichen Kissenaufschütteln im eigenen Bett wieder. Yippie-Ya-...Nee.
Foto: "Luzies Waldspaziergang" - 2009 - Privataufnahme



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Yes, Sir! - oder: Ich steh auf dem Schlauch



„Fahrkartenkontrolle!“ Routiniert beginnen die Fahrgäste der S-Bahn in ihren Taschen zu wühlen und halten ihr Ticket zur Inspektion bereit, während sie parallel weiter ins Smartphone tippen oder Zeitung lesen. Auch meines wird sorgfältig geprüft und für gültig befunden. „Ihre Fahrkarte, bitte!“, sagt der Kontrolleur erneut und meint damit einen Mann, der aus dem Fenster schaut. Er trägt keine Kopfhörer, ist höchstwahrscheinlich auch nicht taub, er reagiert nur einfach nicht. „Hallo!! Ihren Fahrschein hätte ich gern gesehen!“, wird der Kontrolleur jetzt etwas energischer. Doch der Mann tut so als wäre Nichts, als sei der Kontrolleur unsichtbar und auf stumm geschaltet. Kurzzeitig scheint jener diese Möglichkeit tatsächlich in Betracht zu ziehen, sucht Blickkontakt mit anderen Fahrgästen und ist erleichtert als zurück geguckt wird. Er setzt nochmal an, winkt dem Mann vor der Nase herum, doch dieser zieht sein Ding gnadenlos durch. Der Kontrolleur weiß gar nicht mehr wie ihm geschieht, als ihm endlich sein Kollege zuwinkt und anweist, das Abteil zu verlassen. Da hat noch jemand kein Ticket dabei, es aber scheinbar bevorzugt, sich dazu zu äußern. Tze. Anfänger. Mit einem letzten verwirrten Blick verlässt der Kontrolleur die Bahn.

Vielleicht ist der Mann normalerweise ein ganz unbescholtener Bürger, der in aller Panik über seine vergessene Fahrkarte in eine Art Schockstarre verfallen ist. Cool wäre ja, wenn er jetzt plötzlich losglucksen und sich mit einem coolen Spruch den Schweiß von der Stirn pantomiert. Tut er aber nicht. Stattdessen bleibt er sitzen und fährt mit uns in einer von awkwardness geschwängerten Atmosphäre weiter.

Ich fahre ja nur ungern schwarz. Bisher auch nur unbeabsichtigt. Zurzeit besitze ich kein Monatsticket, muss also jedes Mal eine Fahrkarte kaufen und abstempeln. Manchmal kaufe ich aber auch direkt ein Vierer-Pack. Im Eifer des Gefechts kann es da schon Mal passieren, dass ich, während ich einer bereits tutenden U-Bahn entgegensprinte, das abstempeln vergesse. Just in die Bahn gestolpert, habe ich meistens erstmal damit zu tun meinen Atem zu kontrollieren, als die Gültigkeit meiner Fahrkarte. Irgendwann, meistens kurz vor dem Ziel, passiert es dann doch. Die Welt gefriert für eine Sekunde, die sich anfühlt wie eine Ewigkeit und ich werde mir gewahr: Ich fahre schwarz. 

Ich hadere mit mir auszusteigen und schnell abzustempeln. Schaffe ich es wieder zurück in die Bahn zu springen oder muss ich dann auf die nächste warten? Ich bin schon so spät dran. Es sind doch nur noch drei Stationen. Ich argumentiere mit mir selbst, wäge Pros und Contras ab, während ich die dazusteigenden Passagiere genau beobachte. Die Kontrolleure heutzutage sind ja nicht mehr so leicht zu erkennen. Tun ganz zivil, spielen ein Liebespaar und dann Bäm! Wenn die Türen zu gehen, ziehen sie ihr Kontrollgerätdingens aus der Bauchtasche. Ich durchlebe einen wahrgewordenen Thriller, habe mich wohl dazu entschieden, weiter zu fahren. Der Countdown läuft, wenn jetzt kein Kontrolleur mehr einsteigt, habe ich es geschafft.  

Rein körperlich bin ich nicht in der Lage regelmäßig derlei Adrenalinkicks durchzustehen, weshalb ich tutende Bahnen meistens wegfahren lasse oder kurze Strecken auch mal laufe. 

Situationen, in denen ich mich erklären muss oder Ärger bekomme(n könnte), weil ich etwas „falsch“ gemacht habe, liegen mir einfach nicht. Deswegen ist meine Devise: Nicht klauen, nicht stören, pünktlich sein, leise sein, nicht über Zäune klettern, nicht dazwischen reden, bei rot stehen, bei grün gehen, anschnallen, nicht zu schnell fahren, nicht zu dicht auffahren, gerade einparken, nach vorne gucken, zuhören, nicht ärgern, nicht lachen, nicht meckern, nicht rennen und NICHT. LÜGEN.

Ja, ich halte mich gerne an Regeln. Nein, ich kann nicht lügen. Ich halte Notlügen Anderer sogar oft für Unwissenheit oder Vergesslichkeit und stehe dann immer gern mit der Wahrheit zur Seite. Und merke es nicht mal. Nicht mal, wenn mich ein durchdringender Blick davon in Kenntniss zu setzen versucht. Ich steh ja nicht oft auf dem Schlauch, aber in solchen Situationen käme nicht mal Löschwasser durch. Kein Wunder, dass dies in letzter Zeit öfter an mir kritisiert wird. Tut mir ja leid, aber ich kann Nichts dafür. 

Mal ganz hypothetisch gesehen: Müssten mein Mann und ich Drogen zum Dealer, vom Dealer oder irgendwo anders hin bringen, sähe eine Fahrzeugkontrolle wahrscheinlich so aus. 

Polizist: „Haben Sie Drogen dabei?“ Mein Mann bleibt ruhig, sagt ganz eloquent, dass dies natürlich nicht der Fall ist. Verdutzt schaue ich zu ihm rüber, er starrt energisch zurück. Aber der Groschen fällt nicht, stattdessen verwundert mich sein scheinbarer Gedächtnisschwund: „Hä? Weißt du nicht mehr? In die Sitze sind doch 5 Kilo Koks eingenäht?! Wir haben doch eben gerade noch darüber geredet?!“ Mein Mann guckt perplex zwischen mir und dem Polizisten hin und her, an den ich mich jetzt vertrauensvoll wende, um die Situation richtig zu stellen: „Natürlich haben wir Drogen dabei. Ich zeig sie Ihnen. Wie kann ich ihnen noch helfen, Herr Polizist?“

So oder so ähnlich würde das ablaufen, ...also bringt mich oder euch einfach nicht in eine solche Situation. Ihr werdet es höchstwahrscheinlich bereuen. Mit mir kann man halt keine Pferde stehlen, mit mir kann man Pferde nur ausleihen und pünktlich zurückbringen.

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Shhhh...my legs just fell asleep - oder: Das rollende Wartezimmer




„Puh, da ist er ja.“, denke ich erleichtert, als ich den Fernbus kurz nach Verlassen des Berliner Ostbahnhofes entdecke. Meine schlimmste Befürchtung, den Bahnhof am falschen Ende zu verlassen und ihn einmal umrunden zu müssen, nur um nur noch die Rücklichter meines Busses zu entdecken, wird sich nicht erfüllen. 

Ich hole mein iPhone raus, lasse den QR-Code meines Tickets vom Busfahrer abscannen und gedenke mit leichter Melancholie meiner späteren Kinder, die wahrscheinlich nie verstehen werden, warum es einst Spaß machte, Schaffner zu spielen.

Ich bin überpünktlich. Trotzdem muss ich den schmalen Gang im Bus fast bis ganz nach hinten laufen, um noch einen freien Zweierplatz zu ergattern. Es wollen scheinbar doch mehr Leute an diesem Sonntagmittag nach Hamburg fahren, als ich vermutet hatte. Endlich kann ich meine gefütterte Jacke und den dicken Schal ablegen und breite mich mit meinem Rucksack und einem unhandlich großen Geschenk aus. Mit meinem Hantieren und Geraschel störe ich die Stille, die sich bereits zwischen den wartenden Mitfahrern gebildet hat. Zu guter Letzt fällt mein Lippenpflegestift runter und rollt ein paar Reihen nach vorne. Ächzend hebe ich ihn auf, dann gebe ich endlich Ruhe, schwitze leise vor mich hin und warte, dass der Bus los fährt. Noch 15 Minuten. 

Niemand spricht. Zumindest nicht miteinander. Durch unterschiedlichste Klingeltöne kündigen sich Anrufe an, die von unterschiedlichsten Menschen auf unterschiedlichsten Sprachen beantwortet werden. Für letztere bin ich gerade sehr dankbar, sähe ich mich ansonsten doch nahezu gezwungen die fremden Gespräche mitzuhören. 

Ein junges Mädchen steigt in den Bus und schaut sich um. Ich vermute es ist kein Zweier mehr frei. Ich schaue demonstrativ aus dem Fenster, doch sie spricht mich an: „Ist hier noch frei?“ Ich schaue auf meine Jacke, meinen Rucksack und das große Geschenk, die neben mir sitzen. Eigentlich nicht, aber ich fange trotzdem an zu wühlen. Ein paar Minuten später ist mein Hab und Gut im Fußraum verstaut und unsere Beine für die nächsten 3 1/2h außer Gefecht gesetzt. Schade, die Fahrt hätte so schön entspannt werden können. Aber ich nehm das mal als Kompliment, dass meine neue Sitznachbarin von all den Menschen im Bus am ehesten neben mir sitzen wollte.  

Als der Bus sich endlich in Bewegung setzt und damit auch die Klimaanlage, habe ich den kurzen Impuls zu klatschen, kann ihm aber dann doch widerstehen. Es geht los. Ab jetzt warten dreißig Fremde schweigend darauf, dass wir nach Hamburg gebracht werden. Ein sonores Motorengeräusch durchdringt die unangenehme Stille und macht die Atmosphäre gleich viel angenehmer in unseren rollenden Wartezimmer. Einziger Unterschied zu einem Ärzte-Wartezimmer, beginne ich zu philosophieren, ist, dass dort die Leute nicht einfach so wegnicken. Würde man im Bus wahrscheinlich auch nicht machen, wenn man theoretisch jeden Moment ankommen könnte. 

Draußen ziehen schöne Landschaften vorbei. Der Himmel hat tolle Wolken gemalt, Bob Ross wäre stolz. Die Sonne scheint rein  und wärmt mir meine Ohrenschmerzen weg. Ein Symptom der Erkältung, die ich seit einer Woche mit Aspirin Complex hinauszögere. Ich hoffe, dass mir das nach dieser Fahrt weiterhin gelingt. Hier wird viel geniest, aber nicht „Gesundheit“ gesagt. Die Frau hinter mir scheint schon seit geraumer Zeit ihren Hustenanfall nicht unter Kontrolle zu bekommen. Das hört sich gar nicht gut an. Liegt wahrscheinlich auch daran, dass im Husten gute 30 Jahre Kettenrauchen mitrasseln. Ihrem Alter nach zu urteilen, können es gut und gerne auch 50 Jahre sein. Damit kann sie mich beim besten Willen nicht anstecken, da kann sie mir noch so viel in den Nacken husten. Scheinbar mag sie den Versuch aber nicht aufgeben und hüstelt die gesamte Fahrt vor sich hin.

Meine Vorderfrau hat ihren Sitz nach hinten gestellt. Jetzt könnte nur noch ein Artist des Cirque de Soleil mein Buch aus dem Rucksack holen. Gut, dann wird halt doch nicht gelesen. Mein ganzer Unterkörper steht kurz vor einer Mischung aus Verkrampfen und Einschlafen. Meine Sitznachbarin schnarcht auch schon leise vor sich hin,…dachte ich zumindest bis eben, bevor ich zu ihr rüber linste. Sie atmet also laut vor sich hin, immer noch in derselben Position, in die sie sich vor 2 ½ Stunden begeben hat. Vielleicht sind es auch ihre Beine, die ich schnarchen höre. 

Aus den schönen Landschaften wird Hamburg. Pünktlich auf die Minute halten wir am ZOB. Die meisten meiner Mitfahrer sind schon fast ausgestiegen, als der Bus zum Stehen kommt. Auch meine Sitznachbarin hat sich schnell aus ihrer Starre lösen können.

Ich hingegen muss mit Händen nachhelfen, um die trägen Beine aus ihrem Gefängnis zu befreien. Sie wollen gern weiter schlafen. "Noch 5 Minuten", betteln sie mich an. Sogar der Hintern, den sie sonst eigentlich immer überall hin tragen, ist eingeschlummert und möchte das auch nur ungern ändern. Unter lauten Anstrengungen und stillem Protest kann ich meinen tauben Unterkörper aus dem Bus manövrieren und stakse wie ein Flamingo davon. 

Wie bei einem echten Wartezimmer, ist es doch immer am schönsten, wenn man endlich (dr)ankommt. 






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Three Things. Now. - oder: auch nicht.




Es ist 19:34, Freitagabend und ich habe mich aus einem plötzlichen Impuls heraus nochmal auf den Weg ins nahegelegene Shopping-Center gemacht. Ich brauche drei Dinge, ganz dringend. Jetzt. 

Erstes Objekt der Begierde sind Kopfhörer. Dieses Nachbar-Baby (ich berichtete) macht mich verrückt. Ich will mir kaum ausmalen, wie es seinen Eltern gehen muss. Ich brauche dringend Kopfhörer. Nicht nur solche, über die man Musik hören kann, sondern solche, die einen auch ohne Musik von der Außenwelt abschirmen. Während ich in der letzten Woche an einem wirklich aufreibenden Projekt arbeitete, raubte mir das oft Stunden andauernde Geschrei den letzten Nerv.

Zweitens: eine Yoga-Matte. Der einzige Umstand, der mich – so bilde ich es mir zumindest ein -  momentan von der Ausübung meiner sportlichen Ambitionen abhält, ist der, dass ich Situps, Stretching und Planking auf dem harten Holzboden machen müsste und jedes Mal Gefahr laufe mir einen Splitter einzufangen. 

Drittens. Ein Pullover. Nicht nur irgendeiner, sondern ein ganz besonderer. Letzte Woche fand ich mich während eines normal anmutenden Aufenthalts in den Arcaden plötzlich in einem herbstlichen Kaufrausch wieder. Neben einem Poncho, zwei Jeans, einem Karo-Hemd, einem Riesenschal und einem Gürtel, habe ich mich auf den ersten Blick in einen Pullover verliebt. Und nicht nur in ihn, sondern auch in seine ebenso attraktiven anderen Farbnuancen. Wie ferngesteuert lief ich auf ihn zu und streckte meine Hand zum Fühltest aus. Hier wurde schnell klar, dass ich wohl gleich mehrere mitnehmen würde. Nachdem ich fast die gesamte Kleiderstange mit in die Umkleide getragen und die einzelnen Farbtöne anprobiert hatte, entschied ich mich schweren Herzens für beige und grau. Liebend gern hätte ich auch noch zwei weiteren Farben ein neues Zuhause in meinem Kleiderschrank geben wollen, tat es aber nicht, weil mir das vor der Verkäuferin dann doch irgendwie peinlich war. 

Ich fasste aber den Entschluss, sollten sich die Pullover auch nach dem Waschen weiterhin als Glücksgriff herausstellen, würde ich für ein bis zwei weitere Exemplare zurückkehren. Die Verkäuferin sollte mich bis dahin hoffentlich auch vergessen haben. Heute sollte es soweit sein. Das teintschmeichelnde blassrosa sollte es werden, so malte ich es in meinem Kopf zumindest schon aus. Leider waren nur noch schwarz und grau da. Alias „steht mir nicht“ und „hab ich schon“. 

Sehr schade. Die Pullover sind zu meinen absoluten Lieblingen avanciert. Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich getragen habe, bevor ich die beiden mein Eigen nennen konnte. Das zeigte sich bereits während des Shoppens, als ich den beigen Pullover zum Kompatibilitätsabgleich zur neuen potentiellen Jeans anzog, und ihn gleich anbehielt. Mein alter Pullover kam mir plötzlich vor wie ein alter Lumpen. Ich war schon kurz davor damit den Boden der Umkleide zu wischen.

Im Übrigen gab es nicht nur den Pullover nicht, sondern auch keine Kopfhörer und keine Yoga-Matte. Ich kehrte also nur mit langweiligen Lebensmitteln zurück nach Hause und riss mir am Abend beim Planken einen Splitter ein. Wer schreit jetzt lauter, Nachbar-Baby?


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Vomiting Rainbows - oder: Der Post von letzter Woche


Letzten Montag habe ich mich beim Schreiben der nun folgenden Geschichte für die termingerechte Veröffentlichung auf meinem eigenen Blog disqualifiziert. Aus mir noch immer rätselhaften Gründen, hatte ich die Erfahrung, über die ich eigentlich leichtfüßig berichten wollte, noch nicht so ganz verdaut. Ich hatte nicht nur einen Post geschrieben, sondern auch eine kleine Hassbotschaft an die damalige Verantwortliche, die man auch ohne Brille zwischen den Zeilen entdecken konnte. Eben so gar nicht leni-like. Nach dieser leicht irritierenden Erfahrung habe ich mich wieder berappelt, in alte Posts vergraben und bin mir meiner Schreibe wieder bewusst geworden. Jetzt knöpfe ich mir den Text noch mal vor, wäre doch gelacht.

Die Vorgeschichte


Ehe ich endlich zu meiner geheimnisvollen Geschichte komme, muss ich noch ein wenig um den heißen Brei herum reden. Vor nun mittlerweile zwei Wochen erregte ein kleiner, sozialmedialer Vorfall mein Gemüt und schob das zehn Jahre alte Erlebnis zurück in mein Gedächtnis. In nichts banalerem als einem Taff-Beitrag sollte über die Socialmedia-App Snapchat berichtet werden, die es ermöglicht, einmalig Fotos und maximal 10sekündige Videos, zu teilen. So mancher hat in letzter Zeit eventuell vom Phänomen „Regenbogen  kotzen“ gehört...ja, genau: das ist Snapchat.  

Reisebloggerin Christine Neder (lilies_diary), sollte als "Expertin" über die Faszination und den Nutzen der App sprechen, insbesondere für sie als Bloggerin. Das erfuhr ich jedoch nicht bei Taff, sondern weil ich Christines Snapchat Geschichten schon seit einer Weile verfolge und sie dort ganz aufgeregt und voller Vorfreude darüber berichtete. Sie snappte auch während der Beitrag gedreht wurde - natürlich, soll ja auch alles realistisch sein. Denkste.

In der folgenden Woche zeigte Taff einen Beitrag über die snapchatsüchtige Christine, die sich bis zu 6 Stunden am Tag von der Außenwelt isoliert. Sogar ihr Freund schäme sich mittlerweile so sehr für ihre Sucht, dass er nicht für Aufnahmen vor die Kamera treten wolle. 

Da wunderte sich nicht nur Christine und wütete auf ihrem Blog (Link) gegen die Redakteurin, die nur wenige Sätze aus dem zweistündigen Interview benutzt und sich somit auf Christines Kosten einen vermeintlich interessanteren Beitrag zusammen gebastelt hatte. Neben viel Zustimmung rauschte der Reisebloggerin daraufhin jedoch auch viel Schlaubergertum entgegen. Sie sei ja so naiv. Bei einem Format wie Taff hätte sie doch nichts anderes erwarten können. 

Verdrehte Tatsachen


Die verdrehten Tatsachen im Fall der Christine N. kamen mir nur allzu bekannt vor. Vor etwas über zehn Jahren habe ich den Fehler gemacht, mein Abiball-Styling in die Hände einer RTL-Redakteurin zu legen. 

Wir schreiben das Jahr 2005. Eines Tages im vermutlich verregneten April, ich hatte wohl gerade RTL geschaut und mal wieder überlegt, was ich zum Abiball anziehen sollte, schrieb ich ohne viel darüber nachzudenken eine E-Mail an die Punkt 12-Redaktion. Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen Wortlaut: 

 „Wir feiern unseren Abiball im Ballsaal eines vornehmen Hotels. Mein Freund und ich würden gern dementsprechend gekleidet sein, wissen aber nicht, wo wir in unserer Kleinstadt das passende Outfit finden sollen.“ 

Die Redakteurin sah in meiner Anfrage wohl die perfekte Story für die „Besser Stylen“-Rubrik und schrieb mir umgehend zurück. Wenige E-Mails später hatte ich ein RTL-Kamerateam samt Stylisten für den Abiball klar gemacht und musste mir fortan keine Gedanken mehr um mein Outfit machen. Geschweige denn über dessen Preis. 

Eine Woche vor dem großen Tag schrieb die Redakteurin, dass der Stylist am Wochenende unseres Abiballs nun leider doch keine Zeit hat, da er Barbara Becker beim Anziehen helfen muss. Als Plan B schlug sie vor, dass wir stattdessen nach Berlin kommen sollten. Anstatt also in-Reihe-gehen und Händeschütteln für unsere Zeugnisübergabe zu proben, fuhren wir kurz vor knapp mit dem Zug nach Berlin. Extra kaum geschminkt und so basic gekleidet wie möglich, damit das Vorher/Nachher-Ergebnis umso beeindruckender ist.

"Ihr müsst unbedingt sagen, wenn euch was nicht gefällt",


versuchte uns das Kamerateam einzutrichtern, während wir bei laufendem Motor warteten, dass Redakteurin und Stylist High Heels für mich kauften. Sie sprachen aus Erfahrung, was mir erst später so richtig bewusst werden würde. 

Im hippen Friseursalon knüpfte mir der hippe Friseur einen mir bis dato noch unbekannten und deshalb umso exotischen Fischgrätenzopf und ließ ihn durch Rauszupfen kleiner Strähnen besonders messy aussehen. Da die Frisur nicht bis übermorgen halten würde, stand sie für mich sowieso nicht im Mittelpunkt. Die Hairstylistin mit dem ironischen Vokuhila zauberte meinem damaligen Freund Highlights in die Spitzen und schnitt ein paar Millimeter ab. Natürlich in umgekehrter Reihenfolge. 

Nach drei Anläufen für ein Mini-Interview über unsere Abiturnoten, winkte uns der Stylist mit der typischen Handbewegung in eine kleine Boutique, die dem Friseurladen in seiner Hippness ins Nichts nachstand. Für ein paar Schnittbilder hielten wir uns gegenseitig Kleidungsstücke vors Gesicht, schüttelten mit gerümpfter Nase den Kopf oder nickten wohlwollend. Das erste Outfit war auserkoren. Schwarzer Anzug und schwarzes Hemd für ihn und ein schwarzes Kleid mit tiiiiiefem Rückenausschnitt für mich. Wir sahen aus wie die Beckhams. Aufgrund des Rückenausschnittes war das Kleid leider nicht BH-kompatibel - ein Ausschlusskriterium. Der Stylist erklärte in die Kamera, dass dies ein sehr klassisches Outfit sei, aber, dass das sicher noch besser ginge. Er reichte uns das komplette Kontrastprogramm in die Umkleidekabine. Einen weißen Leinenanzug mit fliederfarbenem Hemd und ein farblich passendes Blümchenkleid, welches auffällig gut zu meinem verspielten Zopf passte. 

Das 30-jährige Ich würde beim Anblick dieses Outfits, insbesondere beim Anblick meiner damaligen Figur, sofort zuschlagen. Herrje, warum weiß man eigentlich während man eine super Figur oder tolle Haare hat, ebendiese nicht zu schätzen, sondern erst, wenn man sich Jahre später Fotos davon anguckt?? Meinem 20-jährigen Ich war aber der Ausschnitt zu groß und da ich nicht auf der Suche nach einem sommerlichen 70er-Jahre Outfit war, sondern nach einer feierlichen Robe, fiel auch dieses Outfit durch. 

Drehschluss


Die beiden Outfits, dazugehörige Interviews und Schnittbilder abgedreht, war für die Redakteurin der Beitrag im Kasten. Sie stand dann schon mal draußen und rauchte. Mittlerweile war auch ihr Mann mit Kind gekommen und sie warteten gemeinsam auf ihren Feierabend...wollten noch Essen gehen. Ich hingegen durchwühlte immer noch den Laden, auf der Suche nach einem langen Kleid. Der Stylist fragte mich, warum mir seine Auswahl nicht gefiel und schaute mich fragend an, als ich ihm sagte, wonach ich gerade suchte. Hatte ihm die Redakteurin wohl vergessen zu sagen. Wahrscheinlich hätte ihm die Suche nach einer Abendrobe ebenso Spaß bereitet. Sowas kennt er ja sicher von Babs. 

Nagut. Dann feiern wir halt als David Beckham und Posh Spice verkleidet das Ende unserer Schulzeit. „Die schwarzen Outfits?“, fragte die Redakteurin, die aufgeraucht hatte und fragen wollte, was denn nun ist. Sie zog scharf die Luft durch die Zähne: „Da sprengt leider schon das Jacket unser gesamtes Budget. Das können wir leider nicht machen.“ Schade, hatte ich doch immer angenommen, dass die Protagonisten solcher Beiträge verschiedene Outfits anprobierten, um sich am Ende für eines davon zu entscheiden. War wohl ein Missverständnis meinerseits. Die Zeit drängte. Das mitgebrachte Kind wurde langsam quengelig. 

Letztendlich entschied ich mich für ein Kleid, welches man ungefähr als das genaue Gegenteil des weißen Leinenanzuges bezeichnen konnte. Es war schwarz und wurde vorne mit einem Reißverschluss geschlossen. Hinten hatte es drei Schnallen, unter denen man hervorragend den BH verstecken konnte. Also eben nicht hervorragend. 

Aber pssst, eigentlich darf das keiner wissen


Am Ende des Tages fuhren wir mit dem Kamerateam und dem Stylisten - die Redakteurin aß währendessen wahrscheinlich schon ihren Nachtisch - in einen Park und mimten für die Kamera das glückliche Paar mit dem lässigen, fliederfarbenen Wunschoutfit. Denn wie wir einige Wochen später bei der Ausstrahlung des Beitrages erfuhren, war es unser erklärtes Ziel gewesen, bei unserem Abiball „auf gar keinen Fall fpiefig“ auszusehen, so die Anmoderation von Katja Burkard. 

Wenn ich mir heute die Fotos vom Abiball anschaue, sehe ich trotz Allem eine lächelnde und glückliche Leni, die mit Freunden und Familie das Ende ihrer Schulzeit feiert. Damals war es okay. Es war irgendwie dumm gelaufen, aber zumindest hatte ich ein Kleid und dank Kontakte meiner Mutter noch einen kurzfristigen Termin beim Friseur bekommen. Mit dem nicht perfekten Outfit hatte ich wahrscheinlich auch schon letzte Woche abgeschlossen, aber nicht mit der Redakteurin, die ihre Beitragsidee „lässiger Abiball“ durchgesetzt und uns als unwissende Laien-Darsteller dafür eingesetzt hat. Durch Christines Taff-Beitrag wurde die Wut noch einmal geweckt und bis in meine Fingerspitzen geschürt, sodass ich nicht in der Lage war, so darüber zu schreiben, wie ich eigentlich vor hatte. Ich hoffe, mit diesem Text habe ich nun endlich alle übrigen Krümel dieser Geschichte weg geknabbert.
 



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